In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war diese Idee äußerst populär, erlaubte sie doch der intellektuellen und wirtschaftlichen Oberschicht der europäischen Aristokratien, sich "rassisch" höherwertig zu fühlen und ihre Dominanz über die ungebildeten "Massen", sowie die Kolonialvölker weltweit, als genetisch bedingt zu erklären. Dass - ebenso wie die Gene - die Herrschaft des "Weißen Mannes" eine von der Natur gegebene Sache sei, ließ sich nun ggf. sogar "wissenschaftlich" begründen. Die Jahrhunderte zuvor gebrauchte Idee eines besonderen "Gnadentums" unter dem christlichen Gott, der anderen Göttern und Götzen überlegen schien, als die Europäer auszogen, die Welt zu erobern, verband sich oft zu einer Synthese, bei der Gott zwar noch "Himmel und Erde erschuf", allerdings mittels biologischer Gesetze und eines evolutionistischen Prozess die Existens der Spezies Mensch und verschiedener "Rassen" mit verschiedenem "Wert" erschuf.
Gustav Frenssen (1862-1945), der Pastor in Hemme und Hennstedt war (1890-1902), war stark von diesen Ideen beeinflusst. Schon früh zeigen sich biologistische, sozialdarwinistische und rassistische Anlagen in seinen Werken.
So schreibt er in "Möwen und Mäuse" (1927), in einer ca. 1906 stammenden Notiz, die seine erst wenige Jahre zurückliegenden Erfahrungen als Pastor verarbeitet:
"Ich glaube, dass ungefähr die Hälfte unseres Volkes der Kunst gegenüber ganz stumpf ist. [...] Eine ausgesprochen Freude und ein tiefes Verständnis für Kunst hat vielleicht ein Zehntel des Volks. Ebenso steht es mit der Religion, die auch nur in tiefen Seelen möglich ist. So traurig steht es, daß alles, was schön und heilig ist bestenfalls nur an jedes zehnte Herz schlägt. Die übrigen sind Same, der wertlos / oder vielleicht schlecht aufgegangen ist. Aber sieh, so ist die ganze Natur: sie streut in unendlichen Massen Sterne, Pflanzensamen, Menschenmassen aus, und das meiste ist unbrauchbar und wertlos. Da, wo die menschliche Vernunft, das Kind der göttlichen, den Samen verwaltet, ihn verliest [= Auslese betreibt], und auf vorbereiteten, besten Grund streut, auf vielen Ackerstücken im Land und in vielen Tierställen, da ist freilich Aufzucht und Hochzucht. Aber über das menschliche Geschlecht und Samen selbst lassen die Menschen noch immer die wilde, blinde, vernunftlose Natur walten. [...] Aber einst, nach tausend Jahren, wird die menschliche Vernunft auch da zur Herrschaft kommen; und dann wird aus diesem Urwald ein Park werden, jener Park, den die frühste Menschheit schon im Geist vorgesehen, den sie "das Paradies" nannte." (Gustav Frenssen: "Möwen und Mäuse", 1927, S. 3-4)Die Überzeugung, dass die "Menschenmasse" zum Großteil "unbrauchbar und wertlos" sei, teilte Frenssen schon früh mit, ebenso seinen Wunsch, dies durch "Vernunft", und Auslese wie in der Tierzucht zu ändern. Dreieinhalb Jahrzehnte später durchweht derselbe Grundgedanke schließlich die "Lebenskunde" (1942). Frenssens Weltbild gründet darin auf denselben biologistischen, rassistischen und evolutionistischen Prinzipien, durch die er "Gott" am walten sieht:
"Es gäbe keine Wissenschaft von der Natur, wenn sie nicht Lockung und Treibung aus dem Geheimnis des Weltalls (Gottes) wäre, zum Wahren hin."
"Die Hauptwissenschaft von der Natur ist das Gesetz vom Leben (Biologie). Und innerhalb dieser Wissenschaft das Gesetz vom menschlichen Leben."
"Überall, vor und in seinem Leben, Tun und Lassen, Denken und Wollen steht das allein wichtige, entscheidende, heilige Gebot: "Achte die Gesetz des Lebens!". (Gustav Frenssen: "Lebenskunde" (1942), S. 30, 31, 32)
Es gehört zu den Paradoxien der Bewegung des Sozialdarwinismus, dass er die Regel vom "Überleben des Stärkeren/Fähigeren" (Survival of the fittest) hochhielt, allerdings mit der Paranoia einherging, dass in der westlichen Gesellschaft - entgegen der Regel - die vermeintlich "fittesten" vom Aussterben bedroht seien. Als ab Mitte des 19. Jahrhunderts, durch hohe Geburtenraten bei gesunkener Sterblichkeit, die Bevölkerung rasant wuchs, befürchtete die Bürger- und Oberschicht, dass in wenigen Jahrzehnten das überproportionale Wachstum der unteren Schichten zu einer Hunger- und Wohlstandskrise, einer Verarmung des Staates führen würde.
Adolf Bartels (1863-1945), antisemitischer Literaturkritiker und "völkischer Vorkämpfer" in der Kaiserzeit, wie Frenssen aus Dithmarschen, gibt seinem Pessimismus und auch seinem Determinismus hinsichtlicht der Bildungschancen dieser Menschen Ausdruck:
"Schau ich in die tiefste Ferne Meiner Kinderzeit hinab, so steigt doch auch mancherlei aus dem Grabe, was das „Lasciate ogni speranza“ auf der Stirn geschrieben trägt; da tauchen ganze Familien empor, deren Art und Wesen so deutlich von der Unmöglichkeit, aus ihnen nützliche Mitglieder der menschlichen Gesellschaft zu entwickeln, sprach, daß mir heute alle soziale Arbeit in dieser Richtung als Utopie erscheint. Und ob man sich noch so eifrig vorzumachen strebt, es sei Schuld der Gesellschaft oder der höheren Stände, daß diese Menschen so geworden: es ist Unsinn, diese Geschlechter waren immer so und werden immer so sein, werden alles, was sich von Reinerem und Besserem etwa zu sich verirrt, immer mit hinab in den Schmutz ziehen. Denn Blut ist ein besonderer Saft, und die Erbschaft des Blutes ist stärker als Erziehung und alles andere, und es ist eine große Torheit, anzunehmen, daß alle Menschen von Natur gleich seien; überall gibt es Tschandala." (Adolf Bartels: "Kinderland" (1914), S. 249f.)In seinem Buch, beklagt sich Bartels dann u.a. noch über "Ostpreußen, wie man damals sagte, richtiger Polen." (S. 367) und meint damit aus Ostelbien stammende Arbeiter, die sich in diesen Jahren in Wesselburen zu hunderten ansiedelten und die er eine "Gefahr für das Volkstum" nannte. Ebenso die Wanderarbeiter in der Landwirtschaft, die:
"...vielfach Kranke [sind], die ein wirkliches Leiden dem Schnapse zutreibt, aber vom völkischen Standpunkte aus sind sie doch quantité négligeable, und je eher sie aussterben, desto besser ist es." (Adolf Bartels: "Kinderland" (1914), S. 375f.)Frenssens Radikalität in Bezug auf das, was er als schlecht und vernichtenswert empfindet, ist wenige Jahre später nicht geringer als der seines Landsmannes, mit dem er später auch seine politische Überzeugung teilt. Um 1920 notiert er:
"Der Staat, auch in seiner gegenwärtigen Form [gemeint ist die Weimarer Republik (Demokratie)], ist durch Gesetz und Gewohnheit Herr über Leben und Tod. [...] Wieviel krankes und wertloses Leben behütet er: geborne Verbrecher, Irre, erbkranke Erzeuger und Gebärerinnen, und unsoziale Naturen! Wie fern ist der Staat davon, im rechten Sinn der "Herr über Leben und Tod" zu sein, der harte Vernichter alles Kranken, der weitherzige und kühne Schützer und Helfer alles Gesunden!" (Frenssen: "Vorland" (1938), S. 7).Die nur als widerwärtig zu bezeichnende folgende Ausführung steht im Buch unmittelbar unter dem oben zitierten Stück, ist also etwa ebenfalls von 1920. Sie zeigt, wie sich die biologistische Idee der Eugenik ("[an]geborne"), hier bereits mit dem Begriff des "Untermenschen" und der Sehnsucht nach der Ausrottung ((Zwangs-)Euthanasie) verbinden. Objekt von Frenssen "Urteil" über Kranke und Gesunde, sind zwei Mädchen:
"Ich sah zwei kleine Mädchen mit einem schmutzigen Puppenwagen fahren; sie / schoben den Wagen nicht, sondern stießen ihn vorwärts, daß er mitsamt der Puppe stürzte, und liefen dann hinterher, dasselbe Spiel zu wiederholen. Ihnen fehlte der angeborne Sinn für das Wesen "Kind". Und diese Art Menschen, die Sinnlosen, und daher gebornen Zerstörer, die Verwüster, die Untermenschen, das kranken Blut, sind es, die, während das gesunde Blut abnimmt, in unserem Volk mehr und mehr werden." (Frenssen: "Vorland" (1938), S. 7-8)Wie sich Gustav Frenssen dagegen die positive Seite der Menschenzucht vorstellt illustriert er mit einem Beispiel aus der Pferdezucht, das sich in dem Stück "Tagebuch von diesem Jahr 2023", den fiktiven Notizen eines Amtmannes in einem im Jahr 2023 nach eugenischen Prinzipen regierten Deutschland handelt, das die Grauen der Nazi-Zeit bereits in Teilen vorwegnimmt:
"Da ich in den Itzehoer Nachrichten blättere, die vor hundert Jahren erschienen sind [=1923], lese ich in einer Nummer die Überschrift: "Gesteigerte Nachfrage nach holsteinischen Hengsten". Damals gab es, unbegreiflicherweise, nur für Vieh und Korn Zucht und Zuchtordnungen. Heute erzählt mir der Kreisarzt, daß drei junge Leute, Schleswiger, von guter Rasse, dem Zustand eines kleinen abgelegenen Dorfes in ....., aus dem zur Zeit infolge Inzucht drei Idioten und vier Irre am Leben sind, ein Ende machen sollen." (Gustav Frenssen, "Vorland" (1938), S. 66)Vergleiche aus der Biologie sind unter Sozialdarwinisten und Eugenikern üblich. Thilo Sarrazin, ehem. Bahnvorstand und Finanzsenator von Berlin, behauptete - entgegen jeden wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritts und Studien in der Humanbiologie seit dem 19. Jahrhundert -, dass sich die Vererbbarkeit von menschlicher Intelligenz mit der Vererbbarkeit der Farbe von Erbsen in den Mendelschen Regeln vergleichen lasse. Er verkündete in "Deutschland schafft sich ab.", "dass wir als Volk an durchschnittlicher Intelligenz verlieren, wenn die intelligenteren Frauen weniger oder gar keine Kinder zu Welt bringen".
Bei einem Auftritt im sächsischen Döbeln am 22. September 2011, für den die NPD im Internet warb, brachte er dann noch folgenden Vergleich:
"Stellen Sie sich vor, dies sei ein Gestüt mit Lipizzanerpferden oder sonst irgendetwas, und irgendwie will es der Zufall, dass dort in jeder Generation einmal ein belgischer Ackergaul eingekreuzt wird. Völlig klar, die genetisch bedingte Fähigkeit zum Laufen sinkt, gleichzeitig steigt die genetisch bedingte Fähigkeit, eine Karre durch den Lehm zu ziehen. Aber das ist dann eine andere Eigenschaft. Und genauso ist es auch beim Menschen."Gustav Frenssen hat Menschen schon früh zu "wertlosen Untermenschen" erklärt und ihre Ausrottung für erstrebenswert gehalten. Sozialdarwinismus und Eugenik sind Ideen, die Menschen unter Nützlichkeitserwägungen zu Trägern genetischer Codes degradieren, die als staatseigene Güter zu "Massen" werden, ohne Recht auf Leben und Menschsein. So wie sie pseudowissenschaftlich aus der Biologie ihre Annahmen ableiten, so degradieren sie den Menschen zum Tier.
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