Im dritten Band der „Grübeleien“ (Vorland), der Frenssens
Notizen der Jahre 1920-1935 enthält, findet sich ein fiktives
Tagebuch aus dem Jahr 2023. Frenssen führt den Leser folgendermaßen darin ein:
„Da ich immer noch nicht erkannte, wozu zwei Millionen junge
Deutsche gefallen sind [Anm.: im 1. Weltkrieg], und wieder
weggeführt wurde, und im Träumen in Jahre, die noch nicht sind, sah
ich den Amtmann, wie er an seinem Tisch saß und schrieb. Und er
schrieb:“ (S. 49)
In dieser Notiz, die das längste Stück in „Vorland“
ist (S. 49-70), zeichnet Gustav Frenssen eine für uns erschreckende
Vision eines Deutschlands in hundert Jahren, das von staatlichen Zwangsmaßnahmen von
Euthanasie und
Eugenik bestimmt ist, mit Massenmord und Menschenzucht. Zehn Jahre vor Beginn der
nationalsozialistischen Diktatur und vermutlich auch einige Jahre
bevor Frenssen überhaupt in der damaligen Splitterpartei der NSDAP
und Adolf Hitler die Verwirklicher
seiner rassistisch-biologistischen Visionen erkennen würde, zeichnet er hier unabhängig vom späteren
Gang der Geschichte das Bild einer Gesellschaft, die streng nach dem
„göttlichen, biologischen Gesetz“ geordnet sein solle. Hier
sehen wir schon im Jahre 1923 bei Frenssen jene Ideologie, die er
1942, nun vor dem Hintergrund der real begonnenen Vernichtung von
„lebensunwerten Leben“, nochmals in einem Werk („Lebenskunde“)
kundtat.
Die hier folgenden Fallbeispiele (A bis H), die er im „Tagebuch“
bringt, beschränken sich auf den Bereich der Aussagen zu Euthanasie
und Eugenik. Frenssen lässt in dem Abschnitt aber den Amtmann auch
das Schulwesen (starke und frühe Differenzierung nach den Erbanlagen
der Kinder; kürzer Schul-, Lehr- und Universitätszeit, damit
spätestens mit 22 Jahren das „zeugen und gebären“ beginnen
kann; „Dem ganzen Schulwesen liegt die angeborene germanische
Frömmigkeit zugrunde.“ (s. Seite 53-56 (12. Januar)), das
Rechtswesen (scharfe, schnelle Urteile nicht aufgrund von
Paragraphen, sondern nach „Ehre und Billigkeit“ durch
einen „ernsten, lebenswahren Mann“; auch über sog.
„sittliche Scheusäligkeiten“ (s. S. 62ff.)) und die
Religion vorstellen („15. April: Frühlings- und Ostertag“ (s. S.
67-70)).
[A]
„3. Januar. Heute ist der neugeborene Sohn des Bauern Tees im
Krankenhaus in Meldorf, nach gemeinsamem Beschluß des Kreisrichters,
des Kreisarztes, des Vaters und meiner, vom Leben zum Tode gebracht,
da er, wie die Kopfform erwies, am Gehirn ein Krüppel war.“
(S. 49)
[B]
„11.
Januar. Heute habe ich der dreißigjährigen ledigen Lisa Beer aus
der Sippe der Wennemannen, die als biologisch wertvoll in den Listen
steht, vom Richter und Kreisarzt den Befehl überbracht, noch in
diesem Jahr ihr erstes Kind zu gebären und in den nächsten fünf
Jahren weiteren zwei Kindern das Leben zu geben, widrigenfalls sie
vorläufig auf ein Jahr zu dem harten Dienst im Arbeitslager in T.
eingeliefert würde. […]
Als ich fragte, ob sie keine Gelegenheit hätte zu heiraten, gab sie
zu, daß sie die wohl gehabt hätte; aber nicht mit einem Mann, den
sie liebte. […]
Sie wird also Kinder haben. […]
Nach dem Vater ihrer Kinder, wenn sie ihn nicht selber kund gibt,
wird sie nicht gefragt werden.“
(S. 51)
[C]
„1.
Februar. […]
Indem ich in den alten Tagebüchern der Amtsmannschaft blättere,
finde ich die Eintragung des ersten Vorgängers 1923, das ist vor
genau hundert Jahren: „Als ich das Amt übernahm, war es schon seit
fünfzig Jahren Brauch […],
daß die geistig Hellen und Verantwortlichen mit den Geburten
zurückhielten und bei weitem nur die dumpfen und wirtschaftlich
Verantwortungslosen sich vermehrten.“ / […]
Nun ist alles anders: In meiner
Amtsmannschaft sind in drei Geschlechterfolgen sieben Blutlinien, die
seit drei oder vier Generationen nur eine Last für die Gemeinschaft
waren, durch Unfruchtbarmachung ausgelöscht, ebenso viele Wertarme
in ihrer Zahl beschränkt. / […]
So wie der Staat von jeher verlangt hat, daß die Menschen, wenn es
nötig, für ihn starben, so verlangt er jetzt endlich auch, daß sie
für ihn erzeugen und gebären. […]
Die Unsozialen, aber im übrigen Wertvollen, werden durch harte
Strafen auf den Schwung gebracht. Die Kinder, die nun in den
Dorfstraßen spielen […]
sind gesund, und wenn nicht alle hell, so doch alle ernst und
gutwillig.“
(S. 57-59)
[D]
„28.
Februar. Gestern der Oberrichter in meinem Amtshause zum Großgericht.
/ […]
Zuerst
wurde, in einer Geheimsitzung mit dem Amtsarzt, über einen
vierzehnjährigen Jungen verhandelt, der von Kind an am liebsten von
„Gurgel abschneiden“ redete und vor eini- / gen Wochen eine
Spielkameradin zu vergewaltigen und zu erdrosseln versucht hat. Da
nach allen Erfahrungen anzunehmen ist, daß er, geschlechtsreif
geworden, auch vielleicht sein krankes Erbe fortpflanzen wird, wird
erwogen, ob er ausgelöscht werden soll. Er wird entmannt werden und
kommt in Schutzhaft.“
(S. 59-61)
[E]
„Danach
wurde verhandelt über den dreiundzwanzigjährigen ledigen
gewohnheitsmäßigen Herumtreiber Tees Tamm. Das Urteil schwankte
zwischen Tod und lebenslänglicher Zwangsarbeit. […]
Jetzt wird so ein Mensch entweder ausgelöscht oder, falls er zur
Arbeit brauchbar ist, lebenslänglich in Zwangsarbeit getan. In der
ersten Zeit, vor achtzig Jahren [fiktiv: 1943] wurden sehr viele
ausgelöscht. […]
Auch in dem gestrigen Fall wurde auf Entmannung und lebenslängliche
Zwangsarbeit erkannt.“
(S. 62)
[F]
„7.
März. […]
Die
Sechzigjährige Anna Bande, welche die unheilbare Krankheit, die sie
befallen hat nicht mehr ertragen / kann und will, hat nach dem
Beschluß, dem er Kreisarzt, der Adelsmann und ich beiwohnten, im
Krankenhaus Gift bekommen, das ihr Leben geendet hat. Der
fünfzigjährige Lehrer Thade, der an erblicher und unheilbarer
Schwermut leidet und dieselbe Bitte geäußert hat, wird sicher auch
erhört werden.“
(S. 65-66)
[G]
„Am
selben Tag. Da ich in den Itzehoer Nachrichten blättere, die vor
hundert Jahren erschienen sind, lese ich in einer Nummer die
Überschrift: „Gesteigerte Nachfrage nach holsteinischen Hengsten“.
Damals gab es, unbegreiflicherweise, nur für Vieh und Korn Zucht und
Zuchtverordnungen. Heute erzählt mir der Kreisarzt, daß drei junge
Leute, Schleswiger, von guter Rasse, dem Zustand eines kleinen Dorfes
in ….., aus dem zur Zeit infolge Inzucht drei Idioten und vier Irre
am Leben sind, ein Ende machen sollen.“
(S. 66)
[H]
„10
März. […]
Der junge Dammer, der wegen wiederholten Betruges – er betrügt aus
angeborner Sucht und Arbeitsscheu – im Zwangsdienst ist, hat durch
Vermittlung des dortigen zuständigen Adelsmannes wegen Kränklichkeit
um seine Befreiung gebeten, sonst müßte er sterben. Der Richter
hatte dem Adelsmann, den er weichlich schalt, geantwortet: Wenn er
stürbe, wäre ein Wertloser weniger. Der Oberrichter hatten diesen
Bescheid gebilligt.“
(S. 67)
Die
Einzelfälle die Frenssen aufzählt sind fast immer eindeutig: Man
sieht es den geschilderten Menschen äußerlich an, bzw. ihr
Verhalten lässt zweifellos darauf schließen, dass sie „wertlos“
sind. Die Art des tatsächlich oder auch nur vorauszusehenden
„Vergehens“ (A, D) ist dabei oft weniger ausschlaggebend als
dessen „erblich“ bedingte Ursache: Was er diagnostiziert ist in
der Regel „angeboren“ (A, D, H) und „gewohnheitsmäßig“
(E),, daher aus rassistischer Sicht unveränderbar. Die Strafen sind
entsprechend, wie bei „unheilbar Kranken“ (F), klar: Der
sofortige Tod (A), Sterilisation (C, D, E), auch meist verbunden mit
(lebenslanger) Zwangsarbeit im Lager (D, E), bei der ein frühzeitiger
Tod keineswegs ungewollt, sogar eher erwünscht ist (H). [Im späteren
NS-Regime: „Vernichtung durch Arbeit“].
Auf
der anderen Seite steht die Menschenzucht (G), mit der Verordnung zur
Schwangerschaft (B). Frenssen verurteilt - im Gegensatz zur „bürgerlichen Gesellschaft“ jener Zeit
nicht die Schwangerschaft von unverheirateten Mädchen und Frauen (so
sie denn „gutes Erbe“ haben), die im NS-Staat später u.a. durch das sog. Lebensborn-Programm gefördert wurde.
An
Umerziehung glaubt er aufgrund seiner biologistisch-rassistischen
Ansichten wenig (C). Ziel sei die „Aufwertung“ der Bevölkerung
durch Zuchtauswahl.
Was
Gustav Frenssen hier ausführte ist viel früher Realität
geworden, als er – und wohl die meisten anderen – es sich
vorstellen konnten (nicht ab 1943, sondern schon ab 1933)). Obschon
Frenssen „Vorland“ erst im Jahre 1937 veröffentlichte, zeigen
sie doch wie weit gediehen seine menschenverachtenden Ansichten,
bereits Anfang der 1920er Jahre gediehen waren. Frenssen ist zwar
kein Vorläufer oder Vorbereiter solcher Ideen, die in und außerhalb der
„Völkischen Bewegung“ schon Jahrzehnte früher ihre Heimat
hatten, er hat sie aber aktiv gefordert und propagiert.
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